6 Der Absturz
Dienstag, 11. September 2001 Nachdem ich kurz im Büro war, packte ich meine
Sachen zusammen, denn um 16 Uhr wollte mich Axel abholen, um mit mir zu
einem Vier-Tages-Intensivseminar nach Österreich zu fahren. Um etwa 15.30 Uhr
klingelte es. Axel erzählte mir irgendetwas von: »Flugzeuge in New York …, Wolkenkratzer,
alles zusammengebrochen …, schaut aus wie nach Atomkrieg …, Terroristenverdacht,
unfassbar …, unglaublich …« Zunächst wusste ich überhaupt
nicht, was er meinte, verstand aber aus seinen Worten zumindest so viel, dass
wohl irgendein Flugzeug in New York in einen Wolkenkratzer gerast sei. Mich
packte blankes Entsetzen: Jetzt war es also passiert, dass ein Flugzeug beim
Absturz nicht irgendwo im Wasser oder auf einem freien Feld, sondern mitten in
der Großstadt aufschlug. Ich hatte sofort schlimmste Bilder der Verwüstung vor
Augen und schaltete den Fernseher ein. Als Erstes sah ich die zweite Passagiermaschine
in den zweiten Turm des World Trade Centers rasen und dort explodieren.
Entsetzt, fassungslos und sprachlos saß ich vor dem Fernseher. Als ich nach einigen
Minuten die Lage annähernd erfasst hatte, rief ich nach Kerstin, die sich
irgendwo in unserem Haus befand. Gemeinsam saßen wir wie gebannt vor dem
Bildschirm und erst nach anderthalb Stunden war ich so weit, dass wir nach
Österreich fahren konnten. Während der Autofahrt lief permanent der Nachrichtensender,
denn wir wollten natürlich die Ursache dieses schrecklichen Ereignisses
erfahren. Jeder Leser wird sich wahrscheinlich daran erinnern können, welche
Gefühle er selbst hatte, als er von diesem barbarischen Terroristenakt erfuhr.
Montag, 17. September 2001 Am Sonntag hatte ich versucht, mich ein wenig zu
erholen. Die schrecklichen Ereignisse in New York sorgten jedoch dafür, dass ich
voller Unruhe den Tag verbrachte. Vielleicht beruhte das nicht nur auf den Ereignissen
in New York, wiederum hatte ich eine Vorahnung, ein bestimmtes Gefühl
im Bauch. Meine innere Stimme sagte mir, dass ein weiteres Unglück folgen
würde, eines, das mich persönlich betraf. Am Montag des 17. September, gegen
10 Uhr traf die Hiobsbotschaft ein. Das Telefon klingelte, ich hob ab.
»Guten Tag, Jürgen Höller«, meldete ich mich. »Guten Tag, Herr Höller, hier
spricht xy von der ABC Venture Capital (aufgrund einer Verschwiegenheitserklärung,
die ich unterschrieben hatte, darf ich den Namen nicht nennen). Herr Höller,
ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie: Aufgrund der Ereignisse vom
11. September in New York ist vollkommen unklar, wie sich in den nächsten
Wochen und Monaten die Börsen und die Weltwirtschaft entwickeln werden.
Demzufolge ist absolut nicht abzusehen, ob überhaupt und, wenn ja, wann es zu
einem Börsengang der INLINE AG kommen könnte. Aus diesen Gründen müssen
wir Ihnen leider mitteilen, dass wir die Verhandlungen über die geplante Finanzierungsrunde
der INLINE AG erst einmal aussetzen müssen.« Vielleicht kennst
du das Gefühl, das ich nun empfand, aus deinem eigenen Leben. Der persönliche
»Super-GAU«, also der größte anzunehmende Unfall, war eingetreten: Die schon
sicher geglaubte Finanzierung war geplatzt!
Zwar war der Turnaround-Prozess erst Anfang Juli gestartet worden, aber Mitte
September sah es bereits so aus, dass die INLINE AG sehr bald in die Gewinnzone
zurückkehren würde (wie es ja bis 1999 immer der Fall war). Doch seitdem der
geplante Börsengang im April verschoben wurde, war bis zu diesem Tag ein Liquiditätsbedarf
entstanden, der aus dem operativen Cashflow heraus unmöglich
gedeckt werden konnte. Denn auch wenn die Maßnahmen des Restrukturierungsprozesses
schnell umgesetzt worden waren, benötigt ein solcher Prozess seine
Zeit. Gerade wenn Kosten durch Abbau von Arbeitsplätzen gesenkt werden, gibt
es verschiedene gesetzliche Regeln zu beachten (beispielsweise die Einhaltung der
Kündigungsfristen). Mir war in diesem Moment schlagartig klar, dass die Krise, in
der ich mich bis dato befand, nur ein »laues Lüftchen« gegenüber dem war, was
nun beginnen würde. Ich war urplötzlich in eine extreme Existenzkrise gerutscht,
nicht nur, was die INLINE AG betraf, sondern auch privat. Ich wusste, dass ich
nun blitzschnell handeln musste, um da wieder herauszukommen, aber ich
wusste absolut nicht, wie. Wo sollte ich jetzt innerhalb kürzester Zeit eine Millionenfinanzierung
herbekommen? Wochenlang hatte ich mit vielen Investoren
verhandelt, dann schließlich sogar ein Investoren-Konsortium gefunden – und
nun war plötzlich unsere Existenz massivst bedroht. Der Anschlag auf das World
Trade Center hatte somit weitaus verheerendere Auswirkungen auf die Bevölkerung
weltweit als zunächst angenommen. Denn in der Folge stand nicht nur
unser Unternehmen vor dem Aus. Viele weitere Firmen gerieten in die Krise. Die
großen Fragen lauteten damals: Wie wird sich die Weltwirtschaft entwickeln, wie
die Börsen? In den darauf folgenden Tagen kontaktierte ich zahlreiche potenzielle
Investoren – leider ohne Erfolg! Alle hatten nun erst einmal »die Hosen voll« und
warteten vorsichtig ab, was sich tun würde. Keiner war mehr bereit, Risikokapital
zu investieren. Mit den meisten Lieferanten hatten wir schon vor Wochen gesprochen,
verhandelt und eine Schonfrist erhalten. Doch nunmehr riefen viele voller
Panik an und fragten, wie es denn mit den Zahlungen aussehe. Hatte unsere
Finanzierung geklappt, wann würden sie ihr Geld bekommen?
Unsere Lage wurde immer dramatischer, immer auswegloser. Seit der Nachricht
am 17. September konnte ich keine Nacht mehr richtig durchschlafen. In der
Regel sah es so aus, dass ich zwei, drei Gläser Wein trank und dann um 24 Uhr
schließlich in den Schlaf sank. Anschließend schlief ich zwei, drei, wenn es eine
»gute« Nacht war, vielleicht auch mal vier Stunden. Dieser Schlaf war jedoch
keine Erholung, sondern eher eine ununterbrochene Abfolge von schlechten
Träumen. Ich wachte immer wieder schweißgebadet auf und musste manchmal
zweimal pro Nacht meinen Pyjama wechseln, der vollkommen durchnässt war.
Bei jedem Gespräch, das ich führte, spürte ich die Zurückhaltung der Investoren.
Zurückhaltung nicht etwa gegenüber unserem Unternehmen, unserem
Geschäftsfeld oder meiner Person, sondern einfach Unsicherheit wegen des
gesamten Marktes. Immer verzweifelter und bedrohlicher wurde nun unsere Lage.
Meine Probleme kreisen in meinem Kopf, meine Gedanken rasten immer schneller
und schneller. Wie sollte ich aus dieser ausweglosen Lage nochmals herauskommen?
In dieser Zeit erschienen die ersten Artikel in der Presse über die kritische Situation
der INLINE AG. Es war sowieso ein Wunder, dass die Presse bisher noch nicht
negativ berichtet hatte. Während jedoch die meisten Presseveröffentlichungen
relativ sachlich und nüchtern waren, plagten mich insbesondere meine Heimatzeitungen,
das »Schweinfurter Tagblatt« und die unterfränkische »Mainpost« (die
beide zusammengehören). »Der Adler im Sturzflug«, lautete eine der Überschriften
und in schlimmster Art und Weise war nunmehr alles schlecht, was Jahre
zuvor gut gewesen war. Über viele Jahre hinweg waren die Journalisten froh gewesen,
mit mir Interviews führen zu können, hatten enthusiastisch über den prominentesten
»lebenden Sohn« der Stadt berichtet – und jetzt verdammten sie mich,
vor allem die Redakteure Starost und Helferich, in Grund und Boden. Es schien
ihnen eine geradezu teuflische Freude zu bereiten, auf mich einzuprügeln. Als der
erste seitenlange Artikel im »Schweinfurter Tagblatt« erschienen war, kam mein
fünfjähriger Sohn Alexander zwei Tage später weinend aus dem Kindergarten
nach Hause. Daraufhin fragte ich ihn, was los sei. »Gar nichts«, antwortete er.
»Natürlich ist irgendetwas, Alexander, ich sehe doch, dass du weinst. Komm, sag
es deinem Papa.« Ich nahm ihn auf den Schoß und wiegte ihn. Er wollte absolut
nicht mit der Sprache rausrücken, aber ich ließ nicht locker. »Die anderen Kinder
im Kindergarten waren heute ganz gemein und hässlich zu mir. Sie haben mich
den ganzen Tag gehänselt und mir gesagt, dass mein Papa ein Versager und pleite
ist. Sie haben gesagt, wir müssen bald aus unserem Haus ausziehen. Stimmt das,
Papa?«, schluchzte er. Es zeriss mir das Herz.
Wer den Erfolg sucht, muss auch den Neid akzeptieren. Wer anerkannt wird,
muss auch akzeptieren, dass man auf ihn einprügelt. All dies konnte und kann ich
aushalten. Doch als jetzt der kleine Alexander, der für die ganze Misere nichts
konnte, weinend auf meinem Schoß saß, gab mir das einen unendlich tiefen Stich
ins Herz. Und ich konnte nur mit größter Mühe das Weinen unterdrücken.
»Glaube nicht, was die Kinder zu dir sagen. Dein Papa ist kein Versager, aber es
stimmt, wir haben zurzeit große Probleme«, erklärte ich ihm offen und ehrlich.
»Das Haus müssen wir noch nicht verkaufen, aber auch wenn wir es vielleicht
einmal verkaufen müssen, das ändert doch nichts daran, dass wir uns lieb haben
und auch woanders Spaß haben können, oder was meinst du?«, fragte ich ihn. Ich
machte noch ein bisschen Schabernack mit ihm, er lachte und hatte bald alles
vergessen. Wenn ich damals geahnt hätte, welch furchtbare Schmerzen noch auf
Alexander warten, weiß ich nicht, ob ich ihn hätte trösten können. Anschließend
ging ich mit Gino, unserem Pyrenäen-Schäferhund, zum Joggen und lief eine
Stunde durch den Wald. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf und irgendwann
brach es aus mir heraus: Ich blieb stehen und weinte hemmungslos. All sie
angestaute Anspannung brach in einem Sturm der Verzweiflung aus mir heraus.
Zuerst stützte ich mich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, so heftig wurde
ich von einem Heulkrampf geschüttelt. Schließlich konnte ich mich nicht mehr
auf den Beinen halten. Ich sank zu Boden, auf die Knie, blickte nach oben und
rief verzweifelt: »Warum, lieber Gott, warum machst du das mit mir? Was habe
ich verbrochen, dass du mich so strafst? Warum schickst du solch eine Strafe über
mich, meine Familie, mein ganzes Unternehmen?« Ich machte dem lieben Gott
schlimmste Vorwürfe und blieb minutenlang so hocken. Ich weiß nicht, ob du
schon einmal etliche Minuten von einem Heulkrampf geschüttelt wurdest und
was du dabei für Empfindungen hattest. Mein Kopf wurde plötzlich ganz leer.
Irgendwann stand ich auf und schleppte mich nach Hause. Ich legte mich aufs
Sofa, schaltete die Glotze ein und stierte gedankenverloren auf eine schwachsinnige
Sendung. Stundenlang saß ich so vor dem Fernseher, kraftlos, regungslos,
ohne Energie. Als meine Frau abends nach Hause kam und mich so vorfand,
erschrak sie sehr. Wir aßen etwas, aber ich sprach kaum mit ihr. Ich wollte, aber
ich konnte nicht. All meine Energie, meine Tatkraft, mein Wille – alles war zerbrochen,
zerstört. Ich spürte nur noch eine große Leere. Viele Jahre lang hatte ich
immer Bilder voller Visionen vor meinem geistigen Auge, nunmehr sah ich nur
noch ein großes schwarzes Loch. Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich fühlte
mich vollkommen leer, zerbrochen. Natürlich hatte ich auch in den letzten zwölf
Jahren, solange wir uns kennen, immer wieder einmal eine Phase gehabt, in der
ich verzweifelt und negativ war. Folglich machte sie sich jetzt zwar Sorgen, da sie
mich noch nie so bedrückt erlebt hatte, aber sie baute darauf, dass ich am nächsten
Tag wieder voller Optimismus und voller Energie aus dem Bett springen
würde, so wie sie mich kennt und liebt. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich hatte
nicht einmal mehr die Energie, früh aufzustehen, um mit dem Hund »Gassi« zu
gehen. Ich blieb einfach liegen. Lustlos aß ich einen Teil meines Frühstücks und
legte mich anschließend gleich wieder auf die Couch und stierte vor mich hin.
Das blieb den ganzen Tag so. Nun machte sich Kerstin gehörige Sorgen, denn so
hatte sie mich noch nie erlebt. Am darauf folgenden Tag das gleiche Bild: Ich
arbeitete nichts, ich sprach nichts, ich las nichts, ich aß nichts. Lediglich Wein
schüttete ich in größeren Mengen in mich hinein …
Abends bereitete Kerstin eines ihrer leckeren Essen zu, die ich normalerweise so
liebe. Doch an diesem Abend hatte ich kaum Appetit, lobte sie nicht für die köstliche
Zubereitung, sondern stierte nur weiter vor mich hin. Es schmeckte mir
kaum und eher mechanisch und aus Höflichkeit aß ich ein wenig. Alexander kam
zu mir, um gute Nacht zu sagen, doch auch ihm gab ich nur gedankenverloren die
Hand und einen Kuss auf die Wange – ohne ihn jedoch wirklich wahrzunehmen
oder gar herzlich zu umarmen, wie ich es sonst immer machte. Als Kerstin unsere
Kinder zu Bett gebracht hatte, brach es aus ihr heraus:
»Was ist denn los mit dir?«, fragte sie mich. »Seit Tagen liegst du nur herum. So
habe ich dich ja noch nie gesehen. Haben sie es jetzt endlich geschafft, ja? Haben
es jetzt diese elenden Schmierfinken endlich geschafft, dich zu zerstören?« Sie
brüllte, während sie gleichzeitig dabei weinte.
»Ja, sie haben mich geschafft. Aber vielleicht haben sie ja auch Recht, dass ich
ein Versager bin! Vielleicht haben sie ja auch Recht, dass das, was ich tue, sinnlos
ist!«, sagte ich zu ihr.
»Na prima. Es ist also tatsächlich so weit. So viele Jahre hast du gekämpft.
So weit bist du gekommen. Du hast mit fünf Seminarteilnehmern begonnen
und bis heute fast eine Million Menschen geschult. Und jetzt gibst du kampflos
auf.« Sie setzte sich aufs Sofa und schluchzte jämmerlich. Ich richtete mich auf,
schaute sie an, aber unfähig, ihr irgendetwas zu sagen, geschweige denn, ihr zu
helfen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, murmelte ich. »Ich weiß nicht, wie ich in
kürzester Zeit die Firma retten soll. Ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen
soll. In den nächsten Wochen werden noch viele negative Berichte über mich
erscheinen und über die Situation berichten. Sie werden mich zerreißen. Der
›Erfolgstrainer Europas‹ hat selber mit seinem Unternehmen Schwierigkeiten, das
ist doch ein gefundenes Fressen für all meine Kritiker und Gegner.«
»Na und? Du bist schon öfter in deinem Leben hingefallen und immer wieder
aufgestanden. Du hast tausenden von Menschen in deinen Seminaren gesagt, sie
sollen niemals in ihrem Leben aufgeben. Und nun liegst du selber am Boden und
willst liegen bleiben. Das gibt’s doch nicht!«, schrie sie mich an.
»Ich weiß, aber ich kann nicht mehr. Ich habe mich noch nie in meinem Leben
so schwach und kraftlos gefühlt wie gerade jetzt. Ich bin zu schwach, um morgens
aufzustehen, ich bin zu schwach, um abends ins Bett zu gehen. Und bei dem
Gedanken, welche Energie ich benötigen würde, um das Unmögliche noch möglich
zu machen, weiß ich nicht, wo ich diese hernehmen soll.«
Kerstin kam auf mich zu und zog mich hoch. Ich stand ihr gegenüber und
blickte in ihr tränennasses Gesicht. Sie umfasste meine Schultern mit beiden Händen,
schüttelte mich und schrie:
»Das kann doch alles nicht wahr sein! Weißt du eigentlich, wie viele Menschen
noch größere Probleme haben als wir und die auf dich vertrauen? Denen du ein
Vorbild bist dafür, niemals aufzugeben. Und jetzt willst du diese Menschen enttäuschen?
« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
Da hatte sie meinen wunden Punkt getroffen: Irgendetwas regte sich wieder in
mir und setzte ein klein wenig an Energie frei. Aber da war auch eine Riesenangst.
Eine Angst, die ich nicht formulieren wollte. Kerstin redete weiter wie besessen
auf mich ein:
»Du darfst einfach nicht aufgeben! Du musst wieder aufstehen und weitergehen!
Du musst für die Menschen ein Vorbild sein! Deine Mitarbeiter haben an
dich geglaubt und glauben immer noch an dich! Du bist ihnen ein Vorbild, was
wird denn aus ihnen? Das, was du tust, ist viel zu wertvoll, als dass du jetzt aufgeben
dürftest. Du hast den Menschen so viel gegeben und so viele Menschen warten
auf dich. Denk doch einmal an all die tausenden von Briefen, die du bisher
erhalten hast? Von Menschen, die dir erzählt haben, was sich in ihrem Leben
Wundervolles getan hat. Wie sie harmonischere, liebevollere, aufregendere Beziehungen
führen. Finanziell sicherer und unabhängiger wurden. Krisen überwunden
haben. Denk doch auch einmal an die Briefe von den Menschen, die dir mitteilten,
dass sie eigentlich Selbstmord begehen wollten, und die nur durch eines
deiner Seminare oder Bücher zurückgehalten wurden und wieder auf die positive
Seite des Lebens zurückkehren konnten. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Du bist
zu wichtig, als dass du jetzt aufgeben könntest. Lass es nicht zu, dass du jetzt zerstört
bist. Steh wieder auf, bitte, steh wieder auf!«
Kerstin schrie und tobte. Aber immer noch war ein Knoten in mir, der sich
nicht lösen wollte. Schließlich erklärte ich ihr mit tränenerstickter Stimme:
»Weißt du, was meine allergrößte Angst ist, noch größer als alles, was ich dir bis
jetzt anvertraut habe?«
»Sag es mir«, erwiderte sie und schaute mich erwartungsvoll an.
»Meine größte Angst ist, dass ich dich enttäusche. Ich habe dich kennen und
lieben gelernt und du warst meine Prinzessin. Ich wollte dein Prinz sein, der dir
ein wunderschönes Leben bietet. Ich habe große Angst, dass wir alles verlieren,
was wir aufgebaut haben. Ich habe Angst, dass wir unser Geld verlieren. Ich habe
Angst, dass wir aus diesem Haus ausziehen müssen. Ich habe Angst, dass wir vielleicht
sogar privat pleite gehen müssen. Ich habe Angst, dass all deine Träume
platzen könnten, die ich dir zu erfüllen versprochen habe.«
»Das ist deine größte Angst?«, fragte sie und schaute mich fassungslos an.
»Ja.«
»Bist du denn vollkommen von Sinnen?«, entsetzte sie sich. »Natürlich habe
ich mich gern von dir verwöhnen lassen, natürlich liebe ich unser Haus über alles.
Natürlich freue ich mich, wenn wir unsere Träume verwirklichen. Aber glaubst du
denn wirklich, das sei mir das Wichtigste? Jetzt bin ich richtig enttäuscht von dir.
Wie schätzt du mich denn eigentlich ein? Ich liebe dich! Ich liiiiieeeeebe dich!
Hast du das verstanden? Ich habe dich kennen gelernt, da warst du noch voll-
kommen unbekannt und unbedeutend. Ich habe mich in dich verliebt, weil ich
in dir einen Menschen entdeckte, der unter seiner selbstbewussten, rauen Schale
so unglaublich sensibel, so unglaublich herzlich ist. Und wenn es denn sein muss,
dann ziehen wir eben aus diesem Haus aus. Wenn es sein muss, ziehen wir alle
zusammen in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Aber all das werde ich verkraften. All
das mache ich mit. Wir werden auch dabei unser Leben genießen, Spaß haben.
Vielleicht verlieren wir alles, aber wir dürfen uns nicht verlieren. Die Liebe in
unserer Familie ist das Allerwichtigste! Deine Kinder lieben dich, ganz gleich, ob
du einmal scheiterst oder nicht. Und ich liebe dich auch. Und wenn du es einmal
geschafft hast, wirst du es wieder schaffen. Ich habe immer an dich geglaubt und
ich habe dich immer unterstützt. Ich werde es wieder tun. Ich werde an deiner
Seite sein und mit dir kämpfen. Ich werde alles ertragen. Ich kann auch alles ertragen.
Aber eines kann ich nicht ertragen: wenn du jetzt aufgibst!«
In diesem Moment löste sich der Knoten in meinem Bauch. Gut, wenn es denn
sein müsste, dann würden wir eben alles verlieren, aber meine Frau und meine
geliebten Kinder würden zu mir stehen. Ich hatte immer gewusst, dass sie zu mir
stehen würden, aber ich hatte einfach Angst, sie zu enttäuschen. Ich hatte Angst,
dass sie traurig sein würden, wenn wir unser Haus verkaufen müssten, von dem
wir viele Jahre lang geträumt und das wir schließlich verwirklicht hatten. Oh, wie
hatte ich meine starke, kluge, selbstbewusste Frau doch unterschätzt! Wie großartig
war sie doch. In diesem Moment floss mein Herz über vor Liebe und ich
wusste, dass dies die Frau ist, mit der ich mein ganzes restliches Leben in Liebe
verbringen wollte. Trotz allen Bemühens gab es natürlich auch in unserer Beziehung
Momente des Streits, der Routine und Langeweile. Und es gab auch kurze
Phasen, in denen wir uns etwas voneinander entfernt hatten. Doch all das war
nun Vergangenheit. Vor uns lag die Zukunft! Eine schwierige Zukunft, das war
mir klar. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich es schaffen würde, aber ich
würde mein Bestes tun! Ich würde mein Bestes geben, ich würde über mich selbst
hinauswachsen, um später nicht sagen zu müssen: »Hätte ich doch alles gegeben,
dann wäre es vielleicht möglich gewesen.« Ich nahm Kerstin fest in die Arme und
wir schmiegten uns aneinander. Man würde uns alles nehmen können, nur eines
nicht: unsere Liebe! Ich konnte ja nicht ahnen, dass mir wirklich alles noch
genommen werden sollte – sogar meine Freiheit – und die Liebe wirklich das Einzige
bleiben sollte, was noch mir gehörte …
Donnerstag, 29. November 2001 Den ganzen Tag über war ich äußerst angespannt.
Heute sollte die Entscheidung über die Finanzierung der INLINE AG endgültig fallen.
Die Hälfte des notwendigen Kapitals war von einem der zwei Risikokapitalgeber
bereits genehmigt und auf einem separaten Konto »geparkt« worden. Der
zweite VC hatte heute Ausschuss-Sitzung, in dem die Entscheidung fallen sollte.
Bei Zustimmung war INLINE gerettet – bei Ablehnung insolvent. Zu Beginn des
Seminars, wie stets seit Mitte Oktober 2001, erläuterte ich offen die jetzige Situation
und deren Ursachen. Beim allerersten Eingeständnis dieser Art hatte ich
Lampenfieber gehabt wie bei meinem ersten Vortrag. Ich hatte nicht gewusst, wie
die Seminarteilnehmer reagieren würden. Doch sie hatten fantastisch reagiert:
Viele waren in der Pause zu mir gekommen, teilweise mit Tränen in den Augen
(denn ich hatte auch offen und ehrlich über den nahenden Zusammenbruch und
meine Depressionen berichtet), und hatten mir Mut zugesprochen. Die Seminarteilnehmer
lehrten mich, dass ich durch die ganze Geschichte letztendlich nur
noch glaubwürdiger sein würde, noch menschlicher. Vorher war ich teils sehr
weit entfernt von meinen Kunden gewesen, wie auf einem Podest, weil ich seit
vielen Jahren so erfolgreich war. Jetzt war ich wieder für sie anfassbar. An diesem
29. November wurde mein Vortrag wieder hervorragend von den Teilnehmern
aufgenommen.
16.30 Uhr: In der nachmittäglichen Pause hetzte ich auf mein Zimmer und rief
den zuständigen Sachbearbeiter des Kapitalgebers an. Er meldete sich, aber seine
Stimme klang absolut neutral. Mein Puls raste und mein Blutdruck lag wahrscheinlich
bei 220 … Ich fragte ihn, wie es denn aussehe, ob die Entscheidung im
Ausschuss bereits gefallen sei. »Ja«, hörte ich ihn völlig emotionslos sagen, »der
Ausschuss hat getagt und es hat auch gar nicht lange gedauert, bis man zu einem
Ergebnis kam. Es war leichter, als ich vorher gedacht hatte: Die INLINE AG erhält
die Finanzierung!« In diesem Moment schössen mir Tränen in die Augen und
meine Stimme drohte zu versagen. Mit letzter Kraftanstrengung gelang es mir,
mich zu bedanken und den Hörer aufzulegen. Anschließend ließ ich meinen
Freudentränen kurz freien Lauf, sammelte mich wieder, ging auf die Bühne und
verkündete den Teilnehmern voller Freude, dass die Entscheidung soeben gefallen
und die INLINE AG jetzt gerettet sei. Es gab tosenden Applaus. Überglücklich
beendete ich wenig später den Seminartag. Natürlich rief ich sofort bei Kerstin an:
»Ich bin es, Schatz, ich wollte dir nur sagen, wir haben es geschafft. Wir erhalten
das Geld. Die VCs haben zugesagt, in wenigen Tagen bekommt die INLINE AG das
Geld und wir sind gerettet.« »Wirklich? Das ist ja fantastisch!«, stammelte Kerstin
und ich hörte, wie sie am Telefon vor Freude weinte. Die Anspannung der zurückliegenden
Zeit löste sich mit einem Schlag auf. Wir konnten kaum noch miteinander
telefonieren, so glücklich waren wir und so viel mussten wir schluchzen.
Abends goss ich mir zusammen mit Axel noch ein paar Cocktails hinter die Binde
und wachte am nächsten Tag mit einem Brummschädel, aber voller Optimismus,
Power und Enthusiasmus auf.
Freitag, 30. November 2001 In der Mittagspause rief ich kurz bei Frank Gerbert an,
einem Redakteur des Focus, der einen Artikel über die Situation bei der INLINE
AG schreiben wollte, um ihm mitzuteilen, dass die Finanzierung nun gesichert
sei. Kerstin telefonierte zum gleichen Zeitpunkt mit einem Reisebüro, um für uns
beide einen Urlaub auf Teneriffa zu buchen. In den letzten Monaten hatten wir
extrem viel Energie verbraucht und waren nun völlig ausgelaugt. Ein Urlaub war
dringend nötig. Ich fühlte mich zwar großartig, weil die positive Entscheidung
gefallen war, gleichzeitig aber vollkommen leer. Schon seit Mitte September litt
ich ununterbrochen an fiebrigen Erkältungskrankheiten und Kerstin machte sich
mittlerweile große Sorgen um meine Gesundheit. Solange sie mich kannte, war
ich – abgesehen von einigen Rückenbeschwerden – nie ernstlich krank. Und auch
von Schnupfen und Husten blieb ich meist verschont. Und nun gab es schon seit
Wochen kaum noch einen Tag, an dem ich mich gesund fühlte. Die Krise und der
damit verbundene Energieeinsatz forderten ihren Tribut. Ich hatte ja keine andere
Wahl gehabt: Hätte ich mich etwa ausruhen und zusehen sollen, wie mein Unternehmen
den Bach hinunterging? Doch nun waren wir ja gerettet und konnten
etwas ausspannen. Kerstin buchte den Urlaub nur für uns zwei, mein Schwager
Axel hatte sich nämlich bereit erklärt, sich mit seiner gesamten Familie für die
Dauer unseres Kurzurlaubes bei uns einzuquartieren und für unsere beiden Söhne
zu sorgen.
Freitag, 6. Dezember 2000 An diesem Tag gaben die Venture-Capital-Firmen, die
die Finanzierung zugesagt hatten, bei der Wirtschaftskanzlei Rödl & Partner ein
Vertragswerk in Auftrag, dessen Kosten bei 20 000 Euro lagen. Hintergrund war
der, dass man nicht einen kleinen Vertrag aufsetzen kann, mit dessen Hilfe dann
die Investoren ihr Geld bei der INLINE AG einlegen können, sondern es waren
eine Stichtagsbilanz, eine Firmenbewertung und viele andere Dinge notwendig.
Es musste nun schnell gehen, denn die INLINE benötigte dringend die Auszahlung,
um die Gläubiger, wie vereinbart, kurzfristig bedienen zu können. Deshalb
wurden noch am gleichen Tag die 20000 Euro per Blitzüberweisung an Rödl &
Partner überwiesen. Im Gegenzug erklärten sich diese bereit, das Vertragswerk
kurzfristig nach den Wünschen der Venture Capitalists zu gestalten.
Dienstag, 11. Dezember 2001 Endlich Urlaub! Kerstin und ich bezogen auf Tene –
riffa Quartier in unserem Lieblingshotel. Bereits zum achten Mal machten wir
dort Urlaub und wurden mittlerweile wie gute alte Bekannte behandelt. Wir ge –
nossen unsere Urlaubstage. Ich schlief jeden Tag stundenlang und lud meine Batterien
wieder auf. Die Teneriffa-Sonne wärmte uns und gab uns neue Energie. Fast
jeden Abend joggten wir an der Uferpromenade entlang und ich spürte, wie ich
von Tag zu Tag energiegeladener und vitaler wurde. Meine Dauer-Erkältung war
bereits nach zwei Tagen verschwunden. Wir genossen es, nach all den Sorgen und
Strapazen endlich wieder einmal Zeit für uns selbst zu haben.
Sonntag, 9. Dezember 2001 22 Uhr Ortszeit Teneriffa: Kerstin und ich saßen nach
einem leckeren Fischessen noch bei milden 20 Grad bei einem Gläschen Wein
zusammen. Wir hielten uns an den Händen und waren unglaublich glücklich. So
glücklich, dass sich all unsere Anstrengungen doch noch gelohnt hatten. Denn
was hatte ich nicht alles investiert: Ich haftete persönlich für zirka drei Millionen
Euro. Ich hatte noch im Oktober kurzfristig Mittel an die INLINE gezahlt, ja, ich
hatte auch meinen geliebten Ferrari verkauft, um liquide Mittel zu schaffen. All
diese Entscheidungen hatten sich letztendlich gelohnt: Wir waren gerettet! Wir
träumten von unserer Zukunft. Ich sagte Kerstin, dass ich alles nur Mögliche tun
würde, damit die vorbörslichen Zeichner und die Lieferanten es nicht bereuen
müssten, mitgezogen zu haben. Glücklich und friedlich schliefen wir Händchen
haltend ein, träumten süß von unserer herrlichen Zukunft …
Montag, 10. Dezember 2001 8.12 Uhr Ortszeit Teneriffa: Ich lag noch dösend im
Bett und hörte irgendwo das Klingeln meines Handys. Hatte ich es gestern Nachmittag
vergessen auszuschalten? Kerstin war schon wach und kramte mein Handy
aus der Strandtasche heraus. Ich hörte, wie sie sich meldete und mit dem Anrufer
sprach, und an ihrem Tonfall erkannte ich, dass etwas Schreckliches passiert sein
musste. Schlagartig wurde ich hellwach und richtete mich im Bett auf. Ich sah
Kerstins entsetztes Gesicht, ich hörte, wie sich ihre Stimme komplett verändert
hatte. Was war los? Sie schien mit Axel zu sprechen, Axel Weinberger, ihrem Bruder
und einem meiner wichtigsten Mitarbeiter und bestem Freund. Wenn Axel in
aller Herrgottsfrüh bei uns anrief, musste etwas Schlimmes, etwas Erschütterndes
passiert sein. Alle möglichen Gedanken und Bilder schössen mir durch den Kopf.
Axel wohnte ja zu Hause bei unseren Kindern. Mein Gott, es wird denen doch
nichts passiert sein? »Sag schon, Kerstin, was ist denn los?« Kerstin war leichenblass,
als sie mir das Handy gab, und sagte: »Axel ist dran, bei uns im Geschäft ist
die Staatsanwaltschaft und hat einen Durchsuchungsbeschluss.« Durchsuchungsbeschluss?,
schoss es mir durch den Kopf. Was für einen Durchsuchungsbeschluss?
Was war überhaupt los? Ich glaubte zu träumen.
»Hallo Axel, hier ist Jürgen, was ist denn los?« »Hallo Jürgen«, hörte ich Axel
mit belegter Stimme sagen, »du, hier im Haus ist die Staatsanwaltschaft mit 15 Mitarbeitern.
Sie haben einen Durchsuchungsbeschluss. Sie schleppen gerade eben
Aktenordner raus. Der zuständige Staatsanwalt Dr. Emmert will dich gleich mal
sprechen.«
»Hallo Herr Höller, hier ist Staatsanwalt Emmert«, meldete sich eine nicht
unsympathische Stimme. »Wir haben hier einen Durchsuchungsbeschluss. Wir
ermitteln unter anderem wegen Verdachts auf Verschleppung des Insolvenzan –
trages.«
Mein Puls hämmerte in meinem Schädel. Wie bitte, was war los? Durchsuchungsbeschluss?
Es kam mir vor, als befände ich mich in einem schrecklichen
Alptraum. Ja, natürlich, das war die Lösung: Ich träumte! Ich hatte ein Gläschen
Rioja zu viel getrunken und nun entlud sich die ganze Anspannung der letzten
Monate in einem schrecklichen Alptraum. Gleich würde ich aufwachen, meine
geliebte Kerstin in die Arme nehmen und gemeinsam mit ihr auf der sonnigen
Terrasse unseres Hotelzimmers frühstücken. Doch wieso wachte ich nicht auf?
Immer noch hörte ich die Stimme des Staatsanwaltes: »Herr Höller, wir werden
hier erst einmal alles sicherstellen und uns dann später noch einmal melden, bitte
lassen Sie das Telefon an.«
»Jürgen, hier ist wieder Axel. Werde zunächst erst einmal richtig wach und lass
uns in ein paar Minuten noch einmal telefonieren.«
Fassungslos legte ich den Hörer beiseite und sah Kerstin an. Sie weinte. Und
auch ich hatte einen dicken Kloß im Magen. War denn die ganze Welt verrückt
geworden? Noch nicht einmal acht Stunden war es her, dass wir auf unsere »neu
gewonnene« Zukunft, auf das Ende der großen Krise angestoßen hatten. Und nun
war die Krise wieder da, doch weitaus verheerender als zuvor. Tausend Gedanken
schossen mir durch den Kopf: Was werden die Investoren machen, wenn sie von
der Sache Wind bekommen? Wie hatten die Mitarbeiter angesichts der Staats –
anwaltschaft reagiert? Was werden die Kunden dazu sagen? Und die Presse erst!
Ich sah die Schlagzeilen in den Tageszeitungen bereits vor mir: »Razzia bei Mister
Motivation!«
Das konnte doch alles nicht wahr sein! Die nächsten Stunden verbrachte ich
ununterbrochen am Telefon. Kerstin hatte ich gebeten, sich sofort um einen
Rückflug zu kümmern. Ich musste sofort zurück in mein Unternehmen! Doch an
diesem Tag waren alle Flüge ausgebucht, wir mussten bis zum nächsten Morgen
warten. Mittlerweile erreichte ich den Aufsichtsratsvorsitzenden Eberhard Wagemann.
Dieser erklärte mir, dass der Aufsichtsrat nunmehr beschlossen habe, dem
Vorstand, mir und meinem Kollegen Norbert Beck, anzuraten, Antrag auf Eröffnung
des Insolvenzverfahrens zu stellen. Vorsorglich wies Herr Wagemann darauf
hin, dass im Falle, dass wir den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens
stellen würden, der gesamte Aufsichtsrat sofort zurücktreten würde. Wie heißt es
doch so schön: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff! Die nächste Hiobsbotschaft
folgte auf dem Fuße: Die VCs, die investieren wollten, hatte die Information
ebenfalls schon erreicht. Natürlich sagten die »ehrenwerten Herren« nicht
einfach ab, das ist schließlich nicht ihr Stil, und außerdem fürchteten sie vielleicht,
es könne ihnen irgendwann von der Presse negativ ausgelegt werden, uns
im Stich gelassen zu haben. Also wurde mir verklausuliert deutlich gemacht, dass
die Finanzierung zwar noch möglich wäre, aber … Was so viel heißen sollte wie:
Die Finanzierung war geplatzt, es gab kein Geld, solange die Untersuchung der
Staatsanwaltschaft lief.
Das konnte doch alles nicht wahr sein! Da hatte ich acht Monate lang
gekämpft, gemeinsam mit meinem Team alles gegeben, war nach dem 11. September
am Boden gewesen, hatte es aber noch einmal geschafft – und nun das!
Wir hatten über 90 Prozent der vorbörslichen Zeichner und die Gläubiger über-
zeugt mitzuziehen. Was lief hier eigentlich ab? Doch dann erwachte wieder mein
Kampfeswille. Jetzt erst recht! Ich würde nicht einfach aufgeben! Niemals, ich nicht,
niemals! Von Teneriffa aus telefonierte ich mit anderen potenziellen Investoren,
mit denen ich seit Wochen in Verhandlungen stand. Ich erklärte ihnen offen die
Situation: Innerhalb von 72 Stunden müsse die Finanzierung des Unternehmens
gesichert sein, ansonsten sei der Insolvenzantrag unumgänglich. Die Investoren
bezeugten trotz allem weiteres Interesse und wir verabredeten uns für Mittwoch,
den 19. Dezember, in Schweinfurt. Wenigstens noch ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer!
Ich würde nach jedem Strohhalm greifen. Ein Jürgen Höller gibt nicht
auf, egal, wie schlimm es stehen mag.
Versagen darfst du, aber nie aufgeben!
MARY CROWLEY
Dienstag, 18. Dezember 2001 Abends waren wir wieder zurück in Schweinfurt. Die
örtliche Tageszeitung hatte natürlich bereits über den Vorfall berichtet, mitsamt
Foto von der Staatsanwaltschaft vor unserem Haus. Erst jetzt erkannte ich das
wahre Ausmaß der Katastrophe: Nicht nur im Unternehmen, sondern auch in
unserem Wohnhaus hatte die Staatsanwaltschaft alles durchsucht und sämtliche
schriftlichen Unterlagen, die relevant waren, mitgenommen. Unsere armen Kinder,
unsere arme Familie! Schweinfurt ist ein Ort in der tiefsten fränkischen
Provinz mit 50 000 Einwohnern und es gibt hier nicht sehr viele prominente Persönlichkeiten.
Natürlich waren wir längst Tagesgespräch und der örtliche Fernsehsender,
vor allem jedoch die örtliche Presse, überboten sich gegenseitig in
Häme, Spott und Angriffen. Doch ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern,
denn noch war nicht alles verloren, noch gab es eine Möglichkeit zur Rettung.
Mittwoch, 19. Dezember 2001 Um 7 Uhr saß ich bereits wieder im Büro und ließ
mich von meinen Mitarbeitern informieren. Später fand das Treffen mit den
potenziellen Investoren statt. Wir verhandelten bis tief in die Nacht und hatten
sehr schnell eine grundlegende Einigung erzielt. 1,5 bis 1,75 Millionen Euro sollten
in die INLINE AG gepumpt und damit unsere Probleme endgültig beseitigt
werden. Noch abends gelang es mir, sämtliche Altinvestoren für tags darauf an
einen Tisch zu bekommen. Gleichzeitig hatte ich einen Insolvenz-Fachanwalt, die
Vertreter der Wirtschafts- und Rechtsberatungskanzlei Rödl & Partner sowie die
potenziellen neuen Investoren zum Termin gebeten. Nachts um 2 Uhr sank ich in
einen kurzen, unruhigen Schlaf. In meinem Kopf drehte sich immer noch alles.
Donnerstag, 20. Dezember 2001 Schweißgebadet wachte ich gegen 5 Uhr auf und
konnte dann nicht mehr einschlafen. Ich duschte eiskalt, zog mich an und war
bereits um sieben Uhr wieder im Unternehmen. Um 10 Uhr sollte die große Ver-
handlungsrunde beginnen, ich hatte also noch etwas Zeit, mich vorzubereiten.
Um 9 Uhr kam die nächste Hiobsbotschaft: Vor meinem Privathaus hatten sich
mittlerweile drei Kamerateams vom Fernsehen und zehn bis zwölf Reporter versammelt,
um darauf zu warten, dass ich aus dem Haus käme. Ich schickte sofort
zwei Mitarbeiter hin, um mit den Reportern zu sprechen. Als sie erfuhren, dass ich
in Schweinfurt verhandelte, fuhren sie die paar Kilometer zu unserem Bürogebäude.
Doch mittlerweile saß ich bereits in der Verhandlung, die wieder bis spät
in der Nacht dauern sollte. Deshalb fand ich noch nicht einmal die Zeit, zumindest
ein kurzes Statement abzugeben. Da ich nicht zu greifen war, wurde kolportiert,
dass ich mich immer noch im Ausland befinde, mich nicht stellen wolle,
sondern untergetaucht sei. Unglaublich, ich kannte so etwas bislang nur aus dem
Fernsehen. Jetzt ahnte ich, wie sich zum Beispiel Boris Becker gefühlt haben
musste, als die Staatsanwaltschaft vor einigen Jahren bei ihm eine Hausdurch –
suchung wegen möglicher Steuervergehen durchführte. Man fühlt sich hilflos,
man fühlt sich bloßgestellt, man fühlt sich gejagt.
Es ist schon merkwürdig: Wer als Unternehmer im deutschsprachigen Raum
einen geschäftlichen Misserfolg landet, erleidet nicht nur materiellen Schaden,
sondern ist zusätzlich Spott, Häme und oft sogar massiver sozialer Ausgrenzung
aus der Gesellschaft ausgesetzt. Eine Unternehmenspleite ist (in der Regel!) jedoch
nichts, wofür man sich schämen müsste. Nichts, wofür man in sozialer Hinsicht
bestraft werden sollte. Der Schaden ist auch so groß genug: Die Gesellschaft verhält
sich meiner Meinung nach unverantwortlich. Ja, ich bin sogar der Ansicht,
dass diese Einstellung unseren Wirtschaftsstandort massivst schwächt. Denn diese
undifferenzierte öffentliche Vorverurteilung sorgt letztendlich dafür, dass – im
Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere den USA – nur wenige Menschen
den Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Das Einkommen bleibt aufgrund der
massiven steuerlichen Belastung oft über Jahre hinweg gering, während auf der
anderen Seite das Risiko groß erscheint.
Am Donnerstagabend dann schließlich der vermeintliche Durchbruch: Die Altinvestoren
und die potenziellen Neuinvestoren einigten sich: Es sollten 1,75 Millionen
Euro »frisches« Geld am Freitag, den 21. Dezember 2001, bis 14 Uhr in das
Unternehmen einfließen. Die wesentlichen Bedingungen hielt ich auf einem Flipchart
fest. Die Rödl & Partner-Truppe fuhr gegen 23 Uhr zurück nach Hof, nachdem
sie sich bereit erklärt hatte, bis Freitagfrüh 8.30 Uhr ein Vertragswerk zu
erstellen und dies allen Altinvestoren zuzufaxen. Diese hätten dann gut eine
Stunde Zeit, den Vertrag durchzulesen. Geringfügige Fehler könnten danach
umgehend von Rödl & Partner beseitigt werden. Um 10 Uhr sollten die neuen
Investoren den Vertrag zugefaxt bekommen. Diese wollten sich dann selbst mit
ihrer Hausbank kurzschließen und bis 14 Uhr per Blitzüberweisung das Kapital
zur Rettung der INLINE AG zur Verfügung stellen.
Als ich spätabends an diesem Tag nach Hause kam, war die Pressetruppe mitt-
lerweile abgezogen. Im Kölner Express stand später sinngemäß: Reporter xy habe
meine Frau angerufen, doch diese habe mich verleugnet, denn schließlich sei ich
ja noch in Teneriffa …
Freitag, 21. Dezember 2001 Um 6.30 Uhr verließ ich das Haus. Als die ersten Reporter
um 7 Uhr auftauchten, hatten sie wieder Pech: Jürgen Höller zeigte sich nicht …
Wieder hatte ich nur etwa zwei Stunden geschlafen, aber ich war total aufge –
dreht, mein Puls raste. Würde ich es tatsächlich noch schaffen, alles zu retten?
Um 9.30 Uhr rief ich bei Rödl & Partner an und fragte, ob alle anderen ihre Änderungen
schon durchgegeben hätten. Bis auf eine einzige Ausnahme monierten die
VCs nur Kleinigkeiten. Doch dieser eine stellte nun vollkommen neue Bedingungen.
Ich war fassungslos. Was waren das nur für Menschen?! Wir hatten stundenlang
verhandelt, das Unternehmen schien gerettet. Bei einer Insolvenz würden
sämtliche Altinvestoren ihre Anteile komplett verlieren. Doch nun gab es die
Möglichkeit, das Unternehmen zu retten und damit auch die Anteile – und da
stellte doch tatsächlich jemand vollkommen neue Bedingungen, die vorher nicht
vereinbart waren! Ich tobte vor Wut. Zunächst im Halbstunden-Takt, später im
Viertelstunden-Takt und schließlich alle fünf Minuten rief ich bei den verschie –
denen Altinvestoren und bei Rödl & Partner an. Um 11.50 Uhr bekam ich am
Telefon einen Tobsuchtsanfall, weil der eine Altinvestor immer noch nicht durchgegeben
hatte, welche Änderungen er genau wollte. Ich hatte mittlerweile mehrmals
mit den neuen Investoren gesprochen, diese reagierten äußerst verärgert.
Um 12.35 Uhr das letzte Gespräch mit den neuen Investoren: Sie sagten endgültig
ab! Ihnen erschien die ganze Angelegenheit unseriös und sie hatten kein Vertrauen
mehr. Um 12.48 Uhr reichten mein Vorstandskollege Norbert Beck und ich
per Fax schließlich den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim Amtsgericht
Schweinfurt ein. Ich hatte den Kampf verloren!
Ein kleines »Bonmot« am Rande: Um 15.48 Uhr landete das neue Vertragswerk
endlich auf meinem Schreibtisch. Allerdings mit der »kleinen« Änderung, dass
250000 Euro von den 1,75 Millionen Euro, die insgesamt von den neuen Investoren
fließen sollten, auf ein Extrakonto überwiesen werden sollten. Doch selbst
wenn die neuen Investoren mit dieser »Variante« einverstanden gewesen wären,
wäre es zu spät gewesen, denn die Weihnachtsfeiertage standen vor der Tür. Es
war aus!
Ich berief eine Mitarbeiterversammlung ein und teilte meinen treuen Mitarbeitern
die verheerende Botschaft mit. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch relativ
stark und gefasst. Ich konnte doch jetzt nicht zusammenbrechen! Irgendwie
musste es ja im neuen Jahr weitergehen. Ich musste stark bleiben. Ich musste der
Fels in der Brandung sein, an dem sich meine Mitarbeiter aufrichten konnten. Die
Mitarbeiter fielen sich in die Arme und es flossen viele Tränen. Auch mir selber
stiegen Tränen in die Augen, aber irgendwie gelang es mir, nicht zusammenzubre-
chen, sondern Stärke zu zeigen. Schließlich verabschiedeten sich alle und um
etwa 19 Uhr schloss ich das Firmengebäude zu. Wie würde es weitergehen? Was
würde die Zukunft bringen? Ich hatte verloren! Meine schlimmste Niederlage war
perfekt. Kerstin war bereits seit Mittag im Unternehmen gewesen und hatte mitgefiebert.
Auch sie hatte viele Tränen vergossen, doch nun sprach sie mir gemeinsam
mit Axel Mut zu. Wir würden es schaffen, wir wussten zwar nicht wie, aber
irgendwie würde es weitergehen. Und irgendwie schafften wir auch den Weg nach
Hause. Zu Hause klingelte das Telefon, Paul Underberg war dran. Paul, mein alter
treuer Freund, hatte die ganze Geschichte durch die Presse mitbekommen, und
nun sagte er mir seine volle Unterstützung zu. »Egal, was passiert, Jürgen«, versicherte
er, »ich stehe zu dir! Du kannst dich fest auf mich verlassen. Du hast ebenfalls
stets zu mir gestanden, auch in so manch kritischer Situation. Ich werde
immer für euch da sein, euch helfen und dafür sorgen, dass ihr nicht ins Bodenlose
stürzt.« Oh, wie gut taten diese Worte! Noch am selben Abend riefen ein paar
weitere gute Freunde an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen und mir
ihre Loyalität und Freundschaft zu versichern. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich
mich noch immer sehr standhaft.
Samstag, 22. Dezember 2001 Ausgerechnet in der Nacht zu Samstag erkrankte
unser einjähriger Maximilian so stark, dass Kerstin irgendwann nachts zu ihm ins
Zimmer umzog, da er mit über 40 Grad fieberte. Vielleicht hatte er ja unsere Seelenlage
mitbekommen und trauerte mit? Wer weiß? Auch für mich war es eine
unruhige Nacht mit schrecklichen Alpträumen. Alles drehte sich in meinem Kopf.
Wie im Fieberrausch wurde ich alle paar Minuten wach und hatte Halluzinationen.
Wie würde es wohl weitergehen? Würden meine Kunden mir in Zukunft
noch glauben, wenn ich über Motivation und Erfolg redete? Würden diese überhaupt
noch zu meinen Seminaren kommen? Würde ich noch von Firmen und
Kongressveranstaltern zu Vorträgen eingeladen werden? Würden meine Mitarbeiter
weiterhin bei mir arbeiten wollen? Frühmorgens schlich ich mich leise zu
Kerstin und Maximilian ins Nebenzimmer und kuschelte mich an sie. Sie war
noch schlaftrunken und mir tat es Leid, sie aufzuwecken. Aber ich brauchte jetzt
einfach ihre Wärme, ihren Trost. Mein ganzer Körper wurde geschüttelt, jetzt
hatte ich einen kompletten Zusammenbruch. Der Samstagvormittag war schrecklich.
Immer wieder übermannten mich meine Emotionen und ich war vollkommen
verzweifelt. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig, irgendwie
zu agieren. Bereits seit Freitagabend hatte es stark geschneit und mittlerweile lag
gut und gerne ein halber Meter Schnee – so viel wie seit Jahren nicht mehr. Unser
fünfjähriger Sohn Alexander war zwar betroffen von der Situation, die er durchaus
realisierte, aber er wollte mittags unbedingt mit mir in den Garten, um einen
Schneemann zu bauen. Ich willigte schließlich ein und begann die großen Kugeln
für einen Schneemann zu rollen. Immer wieder lief Alexander durch den Schnee,
warf sich jauchzend hinein und freute sich einfach an so etwas Banalem wie
Schnee. Und da ging es mir etwas besser. Doch nur kurz.
Als ich erneut schluchzend am Esszimmertisch saß, den Kopf auf meine Hände
gestützt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, kam Kerstin, meine geliebte,
wunderbare Kerstin, zu mir und sagte: »Sieh mal, was heute für ein herrlicher Tag
ist!« Ich unterbrach meine »Selbstverzweiflungsphase«, hob den Kopf und starrte
sie ungläubig und verständnislos an: »Wieso, was ist denn für ein Tag?« Und
schluchzte sofort wieder los.
»Nun, es schneit immer noch. Wir werden endlich mal wieder eine richtig
weiße Weihnacht erleben. Dein Sohn Alexander möchte morgen mit dir Schlitten
fahren.«
Ich brach wieder in Tränen aus. »Was soll an diesem Tag wunderbar sein, wir
haben alles, wirklich alles verloren!«
»Haben wir für Weihnachten eigentlich genügend zu essen eingekauft?«, fragte
sie mich.
»Ja, natürlich, du hast ja alles besorgt«, antwortete ich.
»Siehst du, also haben wir doch nicht alles verloren, sondern über die Weihnachtsfeiertage
noch genügend zu essen, wir können mit der Familie feiern.«
Ich musste wider Willen lächeln, denn bei allem, was passiert war, hatten wir
immerhin noch genügend zu essen – und damit ging es uns womöglich besser als
80 Prozent der Weltbevölkerung!
»Und ich habe gerade eine Flasche Wein aus dem Keller geholt. Dort stehen
noch ein paar mehr. Du liebst doch deinen Wein. Haben wir also wirklich alles
verloren?« Ich musste noch mehr lächeln, denn für die nächsten paar Wochen
würde der Weinvorrat natürlich noch reichen.
»Schau mal, Alexander ist wieder im Garten. Sieh mal, wie er im Schnee tobt,
wie glücklich er ist. Haben wir nicht zwei wundervolle Kinder? So gesund, so
vital, so hübsch, so intelligent.« Ja, weiß Gott, das haben wir. »Soll ich eigentlich
den Notarzt rufen?«, fragte mich Kerstin. Ich starrte sie an, unfähig zu verstehen,
was sie meinte.
»Nein, wieso denn? Natürlich bin ich gesund, ich fühle mich einfach nur
besch…«
»Siehst du, du bist gesund, ich bin gesund, unsere Kinder sind gesund. Damit
geht es uns doch eigentlich gar nicht so schlecht. Wenn wir gesund sind, können
wir doch morgen irgendetwas tun, wir können arbeiten, damit wir weiterhin
unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Du sagst, wir haben alles verloren,
was meinst du mit ›alles verloren‹? Wem geht es wohl besser: dem Mann, der Millionen
auf dem Konto hat, aber gerade eben erfahren musste, dass er an Krebs
erkrankt ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. Oder dir, der zwar all sein
Geld verloren hat, aber gesund ist, intelligent ist, über unglaubliches Wissen verfügt
und zudem eine Frau und tolle Kinder hat?«
Ich verstand, was sie meinte. Wir hatten nicht alles verloren. Wir hatten einen
Teil verloren, aber eben nicht alles. Und wir waren durchaus in der Lage, alles wieder
zu gewinnen.
Die Mitte der schwarzen Nacht ist auch
der Anfang des hellen Tages!
Sonntag, 23. Dezember 2001 Am Nachmittag stand ein Besuch bei meinen Eltern
auf dem Programm. Meine Mutter feierte nachträglich ihren 60. Geburtstag und
hatte meinen Bruder, dessen Lebenspartnerin sowie meine Familie und mich zu
Kaffee und Kuchen eingeladen. Zum ersten Mal hatte ich mich wieder aus dem
Haus getraut, und die Stimmung war natürlich gedrückt. Ja, ich gebe es zu: Ich
fühlte mich dermaßen schlecht, dass ich mich fast 48 Stunden verkrochen hatte,
weil ich es nicht ertragen konnte, irgendjemandem in die Augen zu blicken. Mein
Selbstwertgefühl, mein Selbstbewusstsein war auf dem Nullpunkt angelangt. Ich
hatte die größte Niederlage meines Lebens erlitten und wusste nicht, wie es weitergehen
sollte. Deshalb war der Besuch bei meinen Eltern ein wichtiger Schritt,
denn es bedeutete für mich, meine »Komfortzone« zu verlassen. Es bedeutete,
dass ich mir zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch wieder ein Ziel gesetzt
hatte. Und du weißt ja, dass man zur Realisierung seine Bequemlichkeitszone verlassen
muss. Ich war so tief gefallen, ich war so angeschlagen, so verletzt, so verstört,
dass ich es als Erfolg ansah, an diesem Sonntagnachmittag mein Haus verlassen
zu haben …
Und wenn ich wüsste, dass ich morgen
diese Welt verlassen müsste,
so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.
MARTIN LUTHER
Das Familientreffen verlief übrigens sehr harmonisch. Irgendwie schien diese
Krise uns als Familie enger zusammenzuschweißen. Mein Bruder, der acht Jahre
jünger ist als ich und zu dem ich viele Jahre lang keinen besonders innigen Kontakt
mehr hatte, erwies sich in dieser Situation als echter Bruder. Denn alle Barrieren
waren wie weggeblasen, wir waren wieder Brüder, wo einer für den anderen
einsteht.
Montag, 24. Dezember 2001, Heiligabend Kerstin und ich hatten in diesem Jahr
geplant, Heiligabend gemeinsam mit der ganzen Familie bei uns zu Hause zu feiern.
Kurzfristig hatte Kerstin noch überlegt, ob wir das Ganze absagen sollten,
aber ich war dagegen. Ich wollte mir von dieser schwierigen Situation nicht vorschreiben
lassen, wie wir Weihnachten verbringen sollten. Und es wurde tatsäch-
lich ein wunderschönes Weihnachtsfest. Das schönste Geschenk aber hatte ich
von meinem Sohn Alexander bereits vor dem Fest erhalten. Er war zu Kerstin
gegangen und hatte sie gefragt: »Mutti, kannst du was für mich aufschreiben, das
ich Papa geben möchte?« »Natürlich«, antwortete Kerstin und besorgte sich ein
Blatt Papier und einen Stift.
»Alles Gute für Papa! Ich habe dich so lieb! Ich glaub an dich so sehr, dass alles
wieder gut wird. Ich werde dich niemals verlassen. Du bist der beste Papa der
Welt. Dein Alexander.« Seinen Namen konnte er bereits selbst auf den Zettel
schreiben. Als er mir sein Geschenk übergab, war ich zutiefst gerührt. Von all den
wunderbaren Dingen, die ich in der Vergangenheit erhalten hatte, war dies das
schönste Geschenk. Ich nahm Alexander ganz fest in die Arme und sagte: »Alexander,
das ist das Wunderbarste, was du mir jemals in deinem Leben geschenkt
hast und schenken kannst. Weißt du, wir haben so viel verloren. Vielleicht müssen
wir sogar aus unserem Haus in eine winzig kleine Wohnung ziehen. Papa wird
darum kämpfen, dass es nicht so weit kommt, aber das könnte passieren. Aber
wenn Papa weiß, dass du ihn trotzdem lieb haben wirst, wenn wir alle zusammen
aus diesem Haus ausziehen müssen und du trotzdem noch zu mir stehst, dann
wird Papa es schaffen, eines Tages ein neues Haus zu bauen. Kann ich mich auf
dich verlassen?« Alexander nickte mit fest entschlossenem Gesicht und sagte: »Ja,
Papa, auf mich kannst du dich verlassen, ich hab dich sehr lieb, wir schaffen es!«
Den ersten und den zweiten Weihnachtsfeiertag verlebten wir ruhig zu Hause
und ich sammelte wieder etwas Kraft. Das Schlimmste lag hinter mir, dachte ich,
und langsam baute sich neue Energie auf.
Ich würde weiterkämpfen, das wurde mir immer mehr klar. Hatte ich nicht
immer von der Bühne »gepredigt«, dass Aufgeben nicht infrage kommt? Nach
dem Motto: Geht nicht, gibt’s nicht!
Und wenn’s nicht mehr geht?
Dann muss es eben!
Manchmal muss man sich einfach dafür entscheiden, etwas zu tun, etwas zu vollbringen
– auch wenn es absolut unmöglich erscheint. Für dieses Unmögliche
stand in meinen Seminaren der Gang über den Scherbenteppich oder über glühende
Kohlen. Wenn eine zierliche Frau mit einem einzigen Schlag ihrer Hand ein
dickes Brett zerschlug, war das ein Symbol dafür, dass das unmöglich Erscheinende
trotz allem möglich ist. Daran musste ich jetzt denken. Und ich erinnerte mich
daran, wie ich selbst Anfang Januar 1995 barfuß und zitternd auf einem Stuhl
gestanden hatte und über 30 Minuten benötigte, ehe ich schließlich in den Scherbenhaufen
sprang – und keinerlei Schnitte davontrug! Ich hatte etwas Unmögliches
möglich gemacht! Und jetzt würde ich wiederum eine Grenze durchstoßen:
Wenn es nicht mehr geht, dann muss es eben gehen!
Am 11. Januar 2002 wollte ich um 19.30 Uhr gerade mein Büro verlassen, da sah
ich drei meiner Mitarbeiter, Kerstin, Andreas und Axel, die immer noch arbeiteten.
Allerdings ohne großen Elan, ohne Energie. Wie denn auch! Hatten sie doch
ebenfalls monatelang gekämpft, gehofft, gebetet und das Letzte gegeben, um
dann dennoch die Niederlage hinnehmen zu müssen. In den Tagen nach dem 21.
Dezember 2001 hatte ich zwar waschkörbeweise Post von meinen Kunden und
Fans bekommen, die mich aufmunterten, mir ihr Mitgefühl ausdrückten und
mich dabei unterstützten, weiterzumachen, kurz: die Parole ausgaben: »Gib niemals
auf!«
All dies hatte meinen Mitarbeitern und mir viel Kraft gegeben, aber dennoch
war die Unsicherheit groß, ob und, wenn ja, wie wir es schaffen könnten. Am
14. Februar 2002 sollte das erste Seminar in Österreich und am 22. Februar das
erste deutsche Seminar in Mannheim stattfinden. Für Mannheim hatten wir 283
Plätze reserviert und bis zu diesem Zeitpunkt erst 31 Karten verkauft. Die Zukunft
sah also nicht besonders rosig aus. Und das spiegelte sich in den Gesichtern meiner
drei Mitarbeiter wider. Ich schnappte mir die drei, sah ihnen direkt in die
Augen und begann – vollkommen ungeplant aus dem Bauch heraus – auf sie einzureden:
»Es muss jetzt aufhören, dass wir uns ständig selber bemitleiden. Wir müssen
uns ein neues Ziel setzen, wir müssen dieses erreichen und uns damit beweisen,
dass wir es wieder schaffen können. Für Mannheim haben wir erst 31 Karten verkauft.
Jetzt machen wir etwas Verrücktes, etwas vollkommen Verrücktes: Ich
möchte, dass ihr morgen dort anruft und einen größeren Saal mit 500 Plätzen
bucht. Und ich möchte, dass wir ab morgen so Gas geben, dass wir dieses Ziel
erreichen.« Die drei schauten mich entgeistert an. Bisher hatten wir 31 Karten
verkauft – und nun sollten wir innerhalb von etwa sieben Wochen fast 500 Karten
verkaufen? War der Chef jetzt vollkommen verrückt geworden?
»Ich weiß, was ihr denkt, aber erinnert euch an das, was ich euch beigebracht
habe: Wenn man sich ein hohes Ziel setzt, erscheint es einem oft so weit entfernt,
dass man nicht glauben kann, es erreichen zu können. Wer kann sich schon vorstellen,
zu Fuß von Schweinfurt nach Moskau zu laufen, 2000 Kilometer? Wenn
wir uns aber 100 Tage Zeit lassen, sind das pro Tag gemütliche 20 Kilometer, das
schafft fast jeder. Und genauso ist es mit dem 22. Februar. Wir haben noch 35
Arbeitstage. Wenn wir täglich 14 Karten verkaufen, ist der Saal voll. Bei zehn Verkaufsmitarbeitern
sind das nur 1,4 verkaufte Powernight-Karten pro Tag. Traut ihr
euch das zu?«
Die drei hatten jetzt begriffen und nickten begeistert. 1,4 Karten am Tag, das
dürfte doch wohl kein Problem sein! »Seht ihr. Und wenn wir das geschafft
haben, dann stellt euch einmal vor, was das für ein Zeichen ist! Ein Zeichen für
unsere Kunden, ein Zeichen für unser Unternehmen, ein Zeichen für die Journalisten
und den gesamten Markt: Jürgen Höller ist zurück! Könnt ihr euch vorstel-
len, wie wir uns fühlen, wenn wir auf der Bühne stehen und die 500 Leute
anschauen können, die gekommen sind? Spürt ihr auch das Kribbeln in eurem
Bauch, genauso wie ich?«, fragte ich sie.
Ihre Gesichter strahlten, ihre Körper strafften sich und wie aus einem Mund
antworteten sie: »Ja, das schaffen wir!«
Am 14. Februar 2002 fanden sich fast 1100 Teilnehmer im österreichischen Klagenfurt
zum allerersten Seminar nach der Krise ein. Unser Ziel für den 22. Februar
in Mannheim, nämlich 500 Teilnehmer vor uns sitzen zu haben, verfehlten wir
dann allerdings, und zwar sehr deutlich, nämlich um mehr als 30 Prozent: 650
Teilnehmer hatten sich angemeldet!
Fortsetzung folgt!
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